03 Apr

Übersetzer stellen vor: Ein Abend mit Rachel Gratzfeld und Kristiane Lichtenfeld

Wo liegt Georgien gleich wieder? Ist es nicht eines der postsowjetischen Länder irgendwo im Osten? Solche und ähnliche Fragen waren noch vor wenigen Jahren häufig zu hören, wenn das kleine Land zwischen Okzident und Orient zur Sprache kam.


Seit allerdings bekannt wurde, dass es im Herbst 2018 Gastland der Frankfurter Buchmesse sein würde, änderte sich das schlagartig. Geschichte, Politik, Kultur und Kulinarik des Landes stießen plötzlich auf Interesse, seine Literatur wurde als ein Stück eigenständiger Weltliteratur wahrgenommen und findet erstmalig im westeuropäischen Raum Verbreitung.

Georgien in aller Munde

Der Tourismus blüht, und Georgiens Hauptstadt Tbilissi ist längst kein Geheimtipp mehr.
Im Februar dieses Jahres waren auf Initiative der Russischübersetzerin und Georgienkennerin Rosemarie Tietze die beiden Übersetzerinnen Rachel Gratzfeld und Kristiane Lichtenfeld beim Münchner Übersetzer-Forum zu Gast. Rosemarie Tietze moderierte einen unterhaltsamen und sehr aufschlussreichen Abend, an dem nicht nur zwei georgische Klassiker – Kultbücher beides in Georgien – und ihre Übersetzerinnen vorgestellt wurden, sondern auch der Frage nach den Vermittlungsmöglichkeiten der Literatur kleiner Länder nachgegangen wurde.

Dass es fast immer der Vermittlungsarbeit einzelner Kulturschaffender zu verdanken und oft ein langer, mühevoller Weg ist, bis die Literatur kleinerer Länder wahrgenommen, übersetzt und verlegt wird, machten Kristiane Lichtenfeld und Rachel Gratzfeld an diesem Abend sehr deutlich.

Zwei Vermittlerinnen, zwei Biografien

Kristiane Lichtenfeld arbeitete nach einem Slawistik-Studium als Redakteurin und Lektorin für polnische Literatur und Nationalliteraturen der UdSSR im Aufbau Verlag und im Verlag Volk und Welt in Berlin. Seit 1980 ist sie als freischaffende Literaturübersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Georgischen tätig. 1999 erhielt sie den Matschabeli-Übersetzerpreis, 2015 den georgischen Literaturpreis Saba für die Übersetzung von Otar Tschiladses Roman »Der Garten der Dariatschangi«.

Wie sie den Weg zur georgischen Literatur eingeschlagen habe, wollte Rosemarie Tietze gleich zu Anfang wissen. Es sei ihr als DDR-Bürgerin schon in den achtziger Jahren mit Unterstützung des Verlages Volk und Welt und auf Einladung des georgischen Schriftstellerverbandes möglich gewesen, in die Sowjetrepublik Georgien zu reisen, so Kristiane Lichtenfeld. Zahlreiche Aufenthalte in Tbilissi und ein autodidaktisches Studium der georgischen Sprache folgten. Für Kristiane Lichtenfeld sei Georgien nicht nur „das schönste Land in der Sowjetunion“, wie sie erzählte, sie sei auch neugierig gewesen auf seine reiche und vielfältige Literatur. Da die meisten bedeutenden georgischen Werke ins Russische übersetzt waren, studierte sie anhand der Lektüre, wie mit den Besonderheiten georgischer Texte umzugehen war, und begann, sie ins Deutsche zu übersetzen, meist ohne Auftrag und aus eigenem Antrieb.

Der edle Räuber vom Kaukasus

Dabei lag Kristiane Lichtenfeld die Vermittlung bestimmter georgischer Autoren besonders am Herzen, so der Roman Data Tutaschchia – Der edle Räuber vom Kaukasus (Kröner Verlag 2018) von Tschabua Amiredschibi (1921-2013), aus dessen Übersetzung sie dem Publikum an diesem Abend zwei beeindruckende Kostproben gab.
Amiredschibis Roman, offenbar noch während dessen langer Verbannung in stalinistischen Lagern (1944 bis 1960) erdacht, wurde gleich nach seinem Erscheinen in Georgien (1972) zum Sensationserfolg, verfilmt und von seinen georgischen Lesern als politische Metapher der Okkupation und Unterdrückung gelesen. Er gilt als wichtigster Roman der georgischen Gegenwartsliteratur. Sein Held, der „edle Räuber“ Data Tutaschchia, dessen Heimat die Wälder und Berge des um 1885 zum Russischen Zarenreich gehörigen Georgiens sind, wurde zum Nationalhelden und gilt als Robin Hood des Kaukasus.

Ein historischer, philosophischer, politischer und satirischer Episodenroman am Vorabend der Oktoberrevolution, ein großes Gesellschaftsbild der nahen Jahrtausendwende in Georgien.

Ein historischer, philosophischer, politischer und satirischer Episodenroman am Vorabend der Oktoberrevolution, ein großes Gesellschaftsbild der nahen Jahrtausendwende in Georgien.

Ein bedeutendes Werk, keine Frage, aber seine Vermittlung in den Westen, so Kristiane Lichtenfeld, schien unmöglich. In der DDR wurde es zu Lebzeiten seines Autors nicht verlegt, weil er sich gegen die Übersetzung der gekürzten russischen Fassung sperrte (die Langfassung aber über 1000 Seiten umfasst hätte). Und nach der Wende, in den neunziger Jahren, löste sich der Verlag Volk und Welt auf, der Aufbau Verlag orientierte sich programmmäßig neu, andere deutsche Verlage hatten an Georgien und seiner Literatur kein Interesse. Kristiane Lichtenfeld gab nicht auf. Es gelang ihr, den Autor schließlich doch noch von einer gekürzten Fassung zu überzeugen, die sie in der Folge aus eigenem Antrieb und mit wenig Hoffnung auf Verlagsinteresse „vor“übersetzte – bis sie 1991 den zweiten Gast dieses Abends, Rachel Gratzfeld, kennenlernte, die ihr Mut machte.
Über zwei Jahrzehnte vergingen, bis der Roman aus Anlass der Buchmesse 2018 endlich in der deutschen Übersetzung von Kristiane Lichtenfeld erscheinen konnte – eine Publikationsgeschichte, die viele andere georgische Werke so oder ähnlich mit ihm teilen.

Samanischwilis Stiefmutter

Auch Rachel Gratzfeld arbeitete nach ihren Studien der Zoologie und des Kulturmanagements lange Jahre als Verlagslektorin, erst für den Scherzverlag, später für den Schulbuchverlag Klett in der Schweiz. Kristiane Lichtenfeld lernte sie durch deren Übersetzung des Romans „Die fürstlichen Abenteuer des Kwatschi K.“ von Micheil Dschawachischwili kennen, von dem der Scherz Verlag 1991 eine westdeutsche Ausgabe herausbrachte.
Seitdem, erzählt sie an diesem Abend auf Rosemarie Tietzes Nachfrage, habe es sie nach Georgien gezogen, spätestens aber seit ihrer ersten georgischen Reise 2002. Schon damals begann sie, Georgisch zu lernen und knüpfte 2004 erste Kontakte während ihrer Diplomarbeit (Kulturmanagement) zu den Möglichkeiten des Austauschs zwischen georgischem und deutschem Buchmarkt. Da habe sie auch Kristiane Lichtenfeld persönlich kennen gelernt und befragt. Seither versucht sie, der „überaus reichen Sprache (Georgiens) auf die Spur zu kommen“, nach Autoren zu suchen und die Literatur des Landes für den deutschsprachigen Raum zugänglich zu machen.

Um diesem Anliegen ein Fundament zu geben, gründete sie neben ihrer Verlagstätigkeit eine Literaturagentur und war für drei der bedeutendsten georgischen Verlage tätig – Bakur Sulakauri, Diogene und Siesta; zudem auch individuell für Autoren*innen, darunter die beiden inzwischen bekannten Autorinnen Nino Haratischwili und Tamta Melaschwili. Zunächst suchte sie nur im Urlaub und als „Freizeitbeschäftigung“ nach Autoren*innen, besuchte immer wieder Verlage und bot ihnen ihre Auswahl an. Erst nach und nach gelang es ihr, Buchrechte zu verkaufen: der georgische Starautor Aka Morchiladze – auch hierzulande kein unbekannter Autor mehr – war ihre erste Vermittlung an einen deutschsprachigen Verlag.

Später nahm sie immer wieder an georgisch-deutschen Übersetzerwerkstätten unter Leitung von Rosemarie Tietze teil und übersetzt inzwischen Autoren wie Davit Gabunia, Lasha Bugadze und Davit Kldiaschwili (1862 – 1931).
„Für besondere Verdienste um die Verbreitung von Kldiaschwilis Werk“, der zu den herausragenden Schriftstellern des ausklingenden kritischen Realismus in Georgien zählt, und die Übersetzung seines Romans „Samanischwilis Stiefmutter“ (Dörlemann Verlag 2018) wurde sie gerade mit der Medaille Werzchlis potoli, Silbernes Blatt, ausgezeichnet-
Dieser Kurzroman, aus dem Rachel Gratzfeld zwei ebenfalls beeindruckende Passagen vorlas, gehört zu den Lieblingsromanen der Georgier. Vielleicht, so Rachel Gratzfeld, weil sie sich in seinen Charakteren bis heute wiedererkennen können.

„Samanischwilis Stiefmutter“ ist eine tragikkomische Geschichte, die das Leben des verarmten Landadels in der imeretischen Provinz Ende des 19. Jahrhunderts kritisch schildert. Der Roman wurde zweimal verfilmt und wird immer wieder im Theater aufgeführt.

„Samanischwilis Stiefmutter“ ist eine tragikkomische Geschichte, die das Leben des verarmten Landadels in der imeretischen Provinz Ende des 19. Jahrhunderts kritisch schildert. Der Roman wurde zweimal verfilmt und wird immer wieder im Theater aufgeführt.
Unter seinen zeitgenössischen Kollegen mit ihren heldenhaften Erzählungen nimmt Davit Kldiaschwili, so Rachel Gratzfeld, eine Alleinstellung ein: er ist der „Solitär“ unter ihnen, Gesellschaftssatiriker der Zeit, beeinflusst von Tschechow und ein großer Stilist.

Vorsichtige Prognose

Die Prognose, die die beiden Georgien-Expertinnen und hervorragenden Übersetzerinnen am Ende des Abends für die Literaturvermittlung des Landes abgaben, klang ein wenig vorsichtig. Es bleibt abzuwarten, wie viele der Autoren*innen, die im Gastlandjahr 2018 in Erscheinung traten, weiterhin Bücher im deutschsprachigen Raum publizieren und welche neuen Autoren*innen in der Zukunft wahrgenommen werden. Der Markt ist heiß umkämpft.

Aber man wird sehen … und wünscht dem Land von Herzen Erfolg.
Eines gilt jedenfalls seit dem MÜF-Abend als gesichert: Kristiane Lichtenfeld und Rachel Gratzfeld haben mit ihrer langjährigen und bewundernswerten Vermittlungs- und Übersetzertätigkeit in hohem Maße dazu beigetragen, den Boden für den Gastlandauftritt Georgiens im letzten Jahr zu bereiten.

Barbara Lehnerer