Vom Umgang mit „Unübersetzbarem“
Eine detektivische Übersetzer-Reise mit Burkhart Kroeber
Zum Thema Umgang mit „Unübersetzbarem“ hatte das MÜF Burkhart Kroeber am 10. Oktober ins gut besuchte Forum des Literaturhauses geladen. Es sollte an diesem Abend aber weder um Umberto Eco noch um Calvino oder Manzoni gehen, sondern darum, wie Übersetzerinnen und Übersetzer auf der ganzen Welt „eine besonders eigenwillige und einzigartige Stelle in Thomas Manns Zauberberg“ behandelt haben. Kroeber erzählte, wie er den Roman zum ersten Mal als 19-Jähriger gelesen habe, aber damals noch völlig unschuldig und nicht durch die Brille des Übersetzers. Bei einer Zweitlektüre, viele Jahre später, blieb der inzwischen bekannte Eco-Übersetzer nach ca. 780 Seiten plötzlich an einer Textstelle hängen: „ … kahles Geäst, das draußen in eisige, krähenschreiharte Nebelfrühe starrt“ (Der Zauberberg, Teil VII, Kap. Vingt et un, ca. 3 Seiten vor dessen Ende), und stellte sich die Frage: Wie haben die Kolleg*innen das bloß in ihre Sprachen gebracht?
Ein hapax legomenon
Kroeber war auf ein „echtes“ hapax legomenon gestoßen. Denn gebe man das Adjektiv „krähenschreihart“, das Thomas Mann seiner Figur Mynheer Peeperkorn in den Mund legt, in Google ein, werde man genau zu dieser Stelle und ihren Kommentaren geführt, sonst komme es aber nirgendwo vor. Kroebers detektivischer Spürsinn war geweckt: Über mehrere Jahre ging er der Sache nach, machte 39 Übersetzungen des Zauberbergs in 26 Sprachen ausfindig, verglich sie, zapfte dafür das Sprachwissen vieler Kolleginnen und Kollegen an, die ihm gerne dabei halfen, und sammelte die sinngemäßen deutschen Übertragungen zu den fremdsprachigen Textstellen. (vollständige Liste hier)
Übersetzerische Herausforderungen
Über den Beamer sahen wir uns die Textstellen im Einzelnen an, „nicht um sie hochnäsig zu kritisieren oder uns über sie lustig zu machen“, so Kroeber, „sondern um etwas über die Eigenarten der jeweiligen Sprachen zu lernen.“ Und wir erkannten schnell: Die problemlos mögliche Agglutination aus „Krähe“ + „schreien + „hart“ im Deutschen stellt andere Sprachen vor höchste übersetzerische Herausforderungen.
Könnte es sein, dass alle späteren Übersetzer*innen von der ersten Version abgeschrieben haben?
Bereits 1927 machte sich die Amerikanerin Helen Tracy Lowe-Porter an die Arbeit, das deutsche Monumentalwerk zu übersetzen. Sie zerlegte das Adjektiv in seine Bestandteile und schmiss die „Krähen“ aus ihrer Übersetzung. Aus „kahles Geäst, das draußen in eisige, krähenschreiharte Nebelfrühestarrt“ wird bei ihr: „rigid in the harsh and penetrating mist of early dawn … “(wörtlich: „starr im harten und durchdringenden Nebel des frühen Morgens …“). Damit legte sie auch den Grundstein für ein Missverständnis, dass sich in fast allen Übersetzungen (außer der ungarischen, der zweiten tschechischen, der slowenischen und der georgischen) fortschreiben sollte: Aus dem Verb „starren“ bei Thomas Mann wird „starr“ (im Sinne von „erstarren, gefrieren, steif dastehen“). „Könnte es sein, dass (fast) alle späteren Übersetzer*innen von der ersten englischen Version abgeschrieben haben?“, fragt Burkhart Kroeber in die Runde. „Oder war vielleicht das Grimmsche Wörterbuch daran Schuld, in dem Lowe-Porter 1927 nachschlug?“ Auch diese Fährte verfolgte er und fand heraus, dass bei den Grimms das Verb „starren“ als lautlicher Zusammenfall zweier verschiedener Stämme erklärt wird und als erste Bedeutung „erstarren“ genannt wird (und danach erst „starr blicken“). Auch in der englischen Neuübersetzung von 1995 kann sich der in Berlin lebende Übersetzer John E. Woods (der auch Arno Schmidt ins Englische übertrug) nicht anders behelfen, als das Adjektiv zu zerlegen. Bei ihm wird daraus das wohlklingende „harsh with the cries of crows“. Anschließend bereisten wir sämtliche romanische Sprachen: Auch hier funktioniert die Übersetzung nur mittels Zerlegung oder Umschreibung. Auch alle slawischen Sprachen seien durch die Bank eher sehr freie Übersetzungen.
„kråkkraxhårda“
Aber dann staunen wir: 1929 gelang es der Schwedin Karin Boye das deutsche „krähenschreihart“ fast wortgetreu mit „kråkkraxhårda“ (wörtlich: „krähenkrächzhart“) in ihrer Sprache nachzubilden. Die zweite schwedische Übersetzerin nimmt es in ihrer Version von 2011 allerdings wieder zurück, wie auch alle übrigen Skandinavisch-Übersetzer*innen.
Agglutination wäre in einigen Sprachen möglich gewesen, wurde aber nicht ausprobiert
Wie Kroeber von kompetenter Seite erfahren hat, wäre es auch dem Übersetzer ins Jiddische, Jizhak Baszevis (Wilna, 1930) – kein Geringerer als der spätere Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer! –, möglich gewesen, eine ähnliche Agglutination zu probieren, gewagt hat er es nicht. Auch im Niederländischen hätte es theoretisch funktioniert.
Und wie verhält es sich in anderen agglutinierenden Sprachen wie dem Finnischen, dem Ungarischen oder dem Türkischen? In der finnischen Übersetzung wurde die Textstelle schlichtweg gestrichen, im Ungarischen habe es nur zu einem „krähenkrächzig“ und einem separaten „hart“ gereicht, und in der türkischen Übersetzung von 2002 sei eine der wortreichsten Versionen überhaupt entstanden, sehe man einmal von den ostasiatischen Sprachen ab (und dort ginge es strukturell eben nicht anders). So erinnern die beiden japanischen Versionen Kroeber in ihrer künstlerischen Freiheit fast schon an die Übersetzung des durch die Welt gewanderten Goethe-Gedichts „Über allen Gipfeln ist Ruh’“ – „Und dann war’s am Ende irgendein Haiku!“. Und was wurde schließlich aus den armen Krähen, die Lowe-Porter aus ihrer Erstübersetzung geschmissen hatte?
Keine Krähen im Morgenland
In Serbien (bei Nikolina Polovina, 1954) krächzen an ihrer Stelle „Raben“, in der griechischen Übersetzung (Ares Diktaios, 1956) bleibt nur noch eine Krähe übrig, und aus der hebräischen (Mordechay Avi-Shaul, 1955) und der arabischen Version (Ali Abd-al-Amir Salih, 1955) verschwinden sie komplett. Gemeinsam mit Burkhart Kroeber kommen wir zu dem Schluss: „In diesen morgenländischen Gegenden gibt es eben nicht so viele Krähen, weshalb die Übersetzer*innen sie ihren Lesern erst gar nicht zumuten wollten!“ Aus übersetzerischer Sicht ein durchaus pragmatischer Standpunkt. Was hätte wohl Thomas Mann darüber gedacht?
Matthias D. Borgmann, Oktober 2019