28 Okt

Vom Umgang mit „Unübersetzbarem“

Eine detektivische Übersetzer-Reise mit Burkhart Kroeber

Zum Thema Umgang mit „Unübersetzbarem“ hatte das MÜF Burkhart Kroeber am 10. Oktober ins gut besuchte Forum des Literaturhauses geladen. Es sollte an diesem Abend aber weder um Umberto Eco noch um Calvino oder Manzoni gehen, sondern darum, wie Übersetzerinnen und Übersetzer auf der ganzen Welt „eine besonders eigenwillige und einzigartige Stelle in Thomas Manns Zauberberg“ behandelt haben. Kroeber erzählte, wie er den Roman zum ersten Mal als 19-Jähriger gelesen habe, aber damals noch völlig unschuldig und nicht durch die Brille des Übersetzers. Bei einer Zweitlektüre, viele Jahre später, blieb der inzwischen bekannte Eco-Übersetzer nach ca. 780 Seiten plötzlich an einer Textstelle hängen: „ … kahles Geäst, das draußen in eisige, krähenschreiharte Nebelfrühe starrt“ (Der Zauberberg, Teil VII, Kap. Vingt et un, ca. 3 Seiten vor dessen Ende), und stellte sich die Frage: Wie haben die Kolleg*innen das bloß in ihre Sprachen gebracht?

Ein hapax legomenon

Kroeber war auf ein „echtes“ hapax legomenon gestoßen. Denn gebe man das Adjektiv „krähenschreihart“, das Thomas Mann seiner Figur Mynheer Peeperkorn in den Mund legt, in Google ein, werde man genau zu dieser Stelle und ihren Kommentaren geführt, sonst komme es aber nirgendwo vor. Kroebers detektivischer Spürsinn war geweckt: Über mehrere Jahre ging er der Sache nach, machte 39 Übersetzungen des Zauberbergs in 26 Sprachen ausfindig, verglich sie, zapfte dafür das Sprachwissen vieler Kolleginnen und Kollegen an, die ihm gerne dabei halfen, und sammelte die sinngemäßen deutschen Übertragungen zu den fremdsprachigen Textstellen. (vollständige Liste hier)

 

Übersetzerische Herausforderungen

Über den Beamer sahen wir uns die Textstellen im Einzelnen an, „nicht um sie hochnäsig zu kritisieren oder uns über sie lustig zu machen“, so Kroeber, „sondern um etwas über die Eigenarten der jeweiligen Sprachen zu lernen.“ Und wir erkannten schnell: Die problemlos mögliche Agglutination aus „Krähe“ + „schreien + „hart“ im Deutschen stellt andere Sprachen vor höchste übersetzerische Herausforderungen.

Könnte es sein, dass alle späteren Übersetzer*innen von der ersten Version abgeschrieben haben?

Bereits 1927 machte sich die Amerikanerin Helen Tracy Lowe-Porter an die Arbeit, das deutsche Monumentalwerk zu übersetzen. Sie zerlegte das Adjektiv in seine Bestandteile und schmiss  die „Krähen“ aus ihrer Übersetzung. Aus „kahles Geäst, das draußen in eisige, krähenschreiharte Nebelfrühestarrt“ wird bei ihr: „rigid in the harsh and penetrating mist of early dawn … “(wörtlich: „starr im harten und durchdringenden Nebel des frühen Morgens …“). Damit legte sie auch den Grundstein für ein Missverständnis, dass sich in fast allen Übersetzungen (außer der ungarischen, der zweiten tschechischen, der slowenischen und der georgischen) fortschreiben sollte: Aus dem Verb „starren“ bei Thomas Mann wird „starr“ (im Sinne von „erstarren, gefrieren, steif dastehen“). „Könnte es sein, dass (fast) alle späteren Übersetzer*innen von der ersten englischen Version abgeschrieben haben?“, fragt Burkhart Kroeber in die Runde. „Oder war vielleicht das Grimmsche Wörterbuch daran Schuld, in dem Lowe-Porter 1927 nachschlug?“ Auch diese Fährte verfolgte er und fand heraus, dass bei den Grimms das Verb „starren“ als lautlicher Zusammenfall zweier verschiedener Stämme erklärt wird und als erste Bedeutung „erstarren“ genannt wird (und danach erst „starr blicken“). Auch in der englischen Neuübersetzung von 1995 kann sich der in Berlin lebende Übersetzer John E. Woods (der auch Arno Schmidt ins Englische übertrug) nicht anders behelfen, als das Adjektiv zu zerlegen. Bei ihm wird daraus das wohlklingende „harsh with the cries of crows“. Anschließend bereisten wir sämtliche romanische Sprachen: Auch hier funktioniert die Übersetzung nur mittels Zerlegung oder Umschreibung. Auch alle slawischen Sprachen seien durch die Bank eher sehr freie Übersetzungen.

„kråkkraxhårda“

Aber dann staunen wir: 1929 gelang es der Schwedin Karin Boye das deutsche „krähenschreihart“ fast wortgetreu mit „kråkkraxhårda“ (wörtlich: „krähenkrächzhart“) in ihrer Sprache nachzubilden. Die zweite schwedische Übersetzerin nimmt es in ihrer Version von 2011 allerdings wieder zurück, wie auch alle übrigen Skandinavisch-Übersetzer*innen.

Agglutination wäre in einigen Sprachen möglich gewesen, wurde aber nicht ausprobiert

Wie Kroeber von kompetenter Seite erfahren hat, wäre es auch dem Übersetzer ins Jiddische, Jizhak Baszevis (Wilna, 1930) – kein Geringerer als der spätere Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer! –, möglich gewesen, eine ähnliche Agglutination zu probieren, gewagt hat er es nicht. Auch im Niederländischen hätte es theoretisch funktioniert.

Und wie verhält es sich in anderen agglutinierenden Sprachen wie dem Finnischen, dem Ungarischen oder dem Türkischen? In der finnischen Übersetzung wurde die Textstelle schlichtweg gestrichen, im Ungarischen habe es nur zu einem „krähenkrächzig“ und einem separaten „hart“ gereicht, und in der türkischen Übersetzung von 2002 sei eine der wortreichsten Versionen überhaupt entstanden, sehe man einmal von den ostasiatischen Sprachen ab (und dort ginge es strukturell eben nicht anders). So erinnern die beiden japanischen Versionen Kroeber in ihrer künstlerischen Freiheit fast schon an die Übersetzung des durch die Welt gewanderten Goethe-Gedichts „Über allen Gipfeln ist Ruh’“ – „Und dann war’s am Ende irgendein Haiku!“. Und was wurde schließlich aus den armen Krähen, die Lowe-Porter aus ihrer Erstübersetzung geschmissen hatte?

Keine Krähen im Morgenland

In Serbien (bei Nikolina Polovina, 1954) krächzen an ihrer Stelle „Raben“, in der griechischen Übersetzung (Ares Diktaios, 1956) bleibt nur noch eine Krähe übrig, und aus der hebräischen (Mordechay Avi-Shaul, 1955) und der arabischen Version (Ali Abd-al-Amir Salih, 1955) verschwinden sie komplett. Gemeinsam mit Burkhart Kroeber kommen wir zu dem Schluss: „In diesen morgenländischen Gegenden gibt es eben nicht so viele Krähen, weshalb die Übersetzer*innen sie ihren Lesern erst gar nicht zumuten wollten!“ Aus übersetzerischer Sicht ein durchaus pragmatischer Standpunkt. Was hätte wohl Thomas Mann darüber gedacht?

Matthias D. Borgmann, Oktober 2019

 

 

 

 

 

18 Okt

Gläsern übersetzen: Andrea O’Brien und Luis Ruby

Pünktlich zum Hieronymus-Tag am 30. September lud das MÜF seine Mitglieder und alle Interessierten ein, Übersetzer*innenarbeit unmittelbar auf der großen Leinwand zu verfolgen – und zu kommentieren. Das Veranstaltungsformat des „Gläsernen Übersetzens“ wurde schon mehrmals erfolgreich angeboten, diesmal übersetzten Andrea O’Brien und Luis Ruby nacheinander vor aller Augen eine Textstelle zum ersten Mal und ließen das Publikum an der Entscheidungsfindung teilhaben.

Jedem Anfang…

Zuerst stellte Andrea O’Brien kurz ihr neues Projekt (Maria Kuznetsova: Oksana, Behave) vor. Eine Ich-Erzählerin, zu Beginn des Romans sieben Jahre alt, erzählt mit ironischer Distanz aus der Erwachsenenperspektive die Geschichte ihrer Familie. Da es sich um eine Übersetzung aus dem Englischen handelt, war die Publikumsbeteiligung entsprechend rege.

Als Textstelle hatte Andrea O‘Brien den Romananfang ausgewählt, der, wie jede Übersetzerin weiß, eine ganz besondere Herausforderung darstellt. Einerseits entscheiden die ersten Seiten, egal ob im Original oder in der Übersetzung, darüber, ob der Leser überhaupt weiterliest. Zum anderen dauert es bei jeder Übersetzung (genau wie beim Schreiben des Originals) einige Zeit, bis der richtige Ton gefunden ist.

Die Übersetzerin bezog das Publikum unmittelbar in ihre Überlegungen ein. Schon die ersten drei Worte „1992, Kiew, Ukraine“ lösten eine angeregte Debatte aus: Setzt man im Deutschen die Jahreszahl nicht eher ans Ende, also „Kiew, Ukraine, 1992“? Ist die Reihenfolge „Stadt, Land“ nicht dem Amerikanischen geschuldet (Cambridge, Massachusetts), also doch „Ukraine, Kiew, 1992“? Könnte der Zusatz „Ukraine“ im Deutschen nicht gleich ganz entfallen, da er vielleicht für die amerikanische Leserschaft wichtig ist, für deutsche Leser*innen aber womöglich komisch wirkt  (wie „Paris, Frankreich“)?

… wohnt viel Arbeit inne

Da der Romananfang so entscheidend ist für die Charakterisierung der Figuren, wurden die entsprechenden Textstellen besonders ausführlich diskutiert. Im Englischen seufzt die Großmutter „philosophically“. Es kamen zahlreiche Vorschläge, darunter „abgeklärt, nachdenklich, weise“ und „wissend“. Wie befördert sie den Zigarettenrauch aus dem Autofenster? Sie „bläst, pustet, lässt entweichen“ oder „schickt den Rauch hinaus“? Als sehr hilfreich erwies sich, dass Andrea O’Brien fast alle Varianten zumindest vorübergehend übenahm, sodass diese sofort im Kontext ‚gedruckt‘ auf dem Schirm zu sehen waren, was immer wieder dazu führte, dass Vorschläge umgehend zurückgezogen wurden.

Die Großmutter versucht ihrer siebenjährigen Enkelin Amerika schmackhaft zu machen mit den Worten: „But think of all the men.“ Da die Enkelin erst sieben ist, lesen wir „but this wasn’t much of a selling point.“ Diese Textstelle trägt ganz wesentlich zu einer ersten Charakterisierung der Erzählerin bei, sodass hier ein ironisch distanzierender Tonfall notwendig ist, auch wenn die Protagonistin zu diesem Zeitpunkt erst sieben Jahre alt ist.

Nach und nach entstand eine beinahe ‚fertige‘ Übersetzung, allerdings nur von einigen wenigen Zeilen. Bei diesem Arbeits’tempo‘ müssten alle Übersetzer in kürzester Zeit verhungern.

Deutliche Uneindeutigkeit

Anschließend stellte Luis Ruby sein aktuelles Projekt vor, eine Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch. Der Ich-Erzähler des Romans Cameron von Hernán Ronsino gibt Informationen nur zögerlich preis, eine Technik, die die das Übersetzen erschwert, da einerseits häufig noch nicht genug Information vorhanden ist, um Entscheidungen zu treffen, der Text aber andererseits nicht zu eindeutig werden darf.

Der Übersetzer führte anhand seines Textausschnitts sehr anschaulich vor, wie er arbeitet: Anfangs werden alle möglich erscheinenden Varianten aufgelistet, Hinzufügungen im Deutschen markiert, die Rohfassung bleibt möglichst lange offen und erst dann wird in mehreren Arbeitsgängen die optimale Lösung gefunden. Außerdem kamen Hilfsmittel wie Lexika und Synonymwörterbücher zum Einsatz. Ein Video, auf dem der Autor aus einem seiner Werke liest, half Luis Ruby zu Beginn der Übersetzungsarbeit, den richtigen Ton zu finden.

Wenn das Fieber nicht nur packt

Die Publikumsbeteiligung war ebenfalls sehr munter, wenn auch die Diskussion mangels Sprachkompetenz allgemeiner blieb. So wurde zum Beispiel darauf hingewiesen, dass in den romanischen Sprachen generell mehr Personifizierungen verwendet werden als im Deutschen. Es ist also fraglich, ob das Fieber den Erzähler nicht nur „packen“ muss, sondern ihn auch noch „unter die Decke zwingen“ („la fiebre que retorna y me tiene hundido entre las cobijas“). Auch der zweite Teil dieses Satzes („que Orsini sacó de un mueble para cubrirme.“) warf generelle Fragen auf: Da sich für ‚mueble‘ kein entsprechendes deutsches Wort finden lässt, kann die Übersetzung hier genauer werden (z.B. ‚Truhe‘) oder aber auch das Wort ganz weglassen, so dass Orsini die Decken irgendwo ‚hervorholt‘. Besonders zahlreiche Vorschläge wurden für die Übertragung der Fieberphantasien des Erzählers ins Deutsche gemacht, von denen eine ganze Reihe in die Rohübersetzung aufgenommen wurden.

Am Ende entstand ein variantenreicher Text, aus dem in einem mehrstufigen Verfahren die endgültige Übersetzung entstehen wird.

Die praktische Arbeit am Text war nicht nur anregend und sehr vergnüglich, sondern der Abend hat auch – zu meiner großen Freude – gezeigt, wie unterschiedlich Übersetzer arbeiten können. Den beiden und dem engagierten Publikum ganz herzlichen Dank!

Gloria Buschor, 2019