O tempora! Die Zeiten der Vergangenheit – Ein Abend mit Rosemarie Tietze
Pünktlich um 20 Uhr geht es los, der Hufeisentisch ist vollbesetzt, das Interesse am Thema des heutigen Abends offenbar groß. „O tempora!“, so lautet der Titel des mitgliederinternen Workshops von Russisch-Übersetzerin Rosemarie „Mascha“ Tietze.
Die Vergangenheit hat viele Gesichter
Ein Stoßseufzer ist da wohl mitgedacht, denn jede*r Übersetzer*in kennt die Verwirrungen und Verirrungen im Labyrinth der Zeitformen. Heute Abend sollen insbesondere die Vergangenheitstempora beleuchtet werden, die als klassisches Prosa-Erzähltempus wohl zu den härtesten Nüssen gehören, die unsereins zu knacken hat. Zunächst wirft Rosemarie Tietze die Frage in den Raum, was wir als Berufspraktiker*innen von unseren Sprachen berichten können. Wie viele Vergangenheitstempora gibt es in unseren Arbeitssprachen? Sind sie deckungsgleich mit den deutschen (Perfekt, Präteritum, Plusquamperfekt)? Gibt es gravierende Unterschiede? Aus eigener Erfahrung kann Mascha von den Besonderheiten des Russischen berichten, wo es nur eine Vergangenheitsform (Präteritum) gibt, jedoch jedes Verb über zwei Formen verfügt, den unvollendeten sowie den vollendeten Aspekt.
Im Französischen wiederum berichtet eine Workshop-Teilnehmerin gibt es vier Zeiten: das imparfait, das passé simple, das passé composé und das plus-que-parfait, wobei das passé simple in der gesprochenen Sprache nie verwendet wird. Viele heutige Autoren verwenden es auch in der Schriftsprache nicht mehr, sondern ersetzen es durch das passé composé (Perfekt). Das kann beim Übersetzen zum echten Problem werden, denn ich darf die Zeitform nicht unbesehen übernehmen, weil mein Text unnatürlich schwerfällig würde und im Deutschen das Perfekt auch andere Funktionen hat. Im Italienischen hingegen gibt es mit dem passato remoto eine Zeitform, die nur im Süden mündlich verwendet wird, ansonsten aber der gehobenen Schriftsprache angehört. Zudem verwendet das Italienische sehr oft die Vorzeitigkeit (trapassato remoto), was beim Übersetzen dazu verleitet, es im Deutschen als Plusquamperfekt nachzubilden, was jedoch oft schwerfällig und unnötig ist.
Es gibt keine absolute Bedeutung der Zeiten, nur eine relative, je nach Kontext, Sprech- bzw. Schreibakt und Tempusumgebung.
Überhaupt das Plusquamperfekt im Deutschen! Hatte, hatte, Landratte! Offenbar bereitet es so einigen Kolleg*innen am Tisch Kopfschmerzen. Üblicherweise kann man bei Rückblenden in Romanen zunächst im Plusquamperfekt beginnen, wechselt dann ins Präteritum und kehrt zum Schluss der Passage wieder ins Plusquamperfekt zurück, um die Leser*innen daran zu „erinnern“, dass wir uns hier nach wie vor in einer Rückblende befinden und es nun im Hier und Jetzt des Romans weitergeht. Doch Mascha hat dafür einen genialen Kniff auf Lager. Anstatt vom Plusquamperfekt ins Präteritum zu wechseln, was auch nicht ohne ist („du nageltest“, „du zaudertest“), wechselt man stattdessen ins Präsens. Am Tisch ungläubiges Staunen. Doch das darauf folgende Textbeispiel beweist: Es funktioniert! Hier und da werden Notizen gemacht. Eine zentrale Erkenntnis des Abends lautet:
Es gibt keine absolute Bedeutung der Zeiten, nur eine relative, je nach Kontext, Sprech- bzw. Schreibakt und Tempusumgebung. Der Abend ist gespickt von solchen Aha-Momenten und am Ende gehen alle mit dem guten Gefühl nach Hause, nicht allein zu sein mit ihren gelegentlichen Stoßseufzern und wieder etwas dazu gelernt zu haben.
Bericht & Fotos: Janine Malz