Übersetzer stellen vor: Karl Ristikivi
„Ein Kultroman, den keiner kennt“ – das hätte als Motto dieses Abends dienen können: Die Nacht der Seelen des estnischen Autors Karl Ristikivi, den der Übersetzer Maximilian Murmann gemeinsam mit dem Verleger Sebastian Guggolz vorstellte.
Übersetzer und Verleger im Gespann
Mit dem Roman Die Nacht der Seelen hielt die Moderne in die estnische Literatur Einzug. Dass er zum Kultbuch wurde, ist allein schon deshalb erstaunlich, weil er nach seinem Erscheinen 1953 in Estland gar nicht vertrieben werden durfte, war der 1912 geborene Autor doch 1944 wie Tausende seiner Landsleute vor den Sowjets nach Schweden geflohen.
Der Übersetzer rannte beim Verleger offenen Türen ein
Auch die Genese der Übersetzung folgte, wie Murmann und Guggolz im Zwiegespräch erklärten, keineswegs dem üblichen Weg: Der Übersetzer selbst, der u.a. Finnouguristik studiert hatte, trat mit diesem Projekt an den Verleger heran – und rannte offene Türen ein, hatte dieser doch auf einer früheren Reise nach Tallinn sehr viel Lob über den Roman gehört. Nicht, dass er ihn hätte lesen können, er war bislang in keine andere ihm verständliche Sprache übersetzt worden.
Ein namenloser Held in einer namenlosen Stadt
Der Inhalt des Buchs ist relativ schnell wiedergegeben: Im ersten Teil zieht es den Ich-Erzähler (Ristikivis Alter Ego) in der Silvesternacht auf die Straßen hinaus, doch die freudlose, aggressive Stimmung in der der namenlosen Stadt treibt ihn in ein erleuchtetes Haus, dessen Tür einladend geöffnet ist. Dort schlendert er von einem Raum in den nächsten und erlebt allerlei absonderliche Begebenheiten, stets bedrängt von der Frage, ob er sich überhaupt in diesen Räumen aufhalten, dem Konzert lauschen, das Bild betrachten darf.
Daran schließt sich ein 15-seitiger Brief des Autors, der als sein literarisches Manifest zu verstehen ist: Eine verworrene Welt könne man nicht geradlinig beschreiben, das Leben löse sich nicht auf, deswegen müsse einem Roman die Auflösung auch fehlen.
Der Roman erinnert streckenweise an Franz Kafka, die Schwere wird hier aber mit Komik abgefedert
Im zweiten Teil geht es um einen Prozess – scheinbar gegen den Erzähler selbst. Doch wegen welcher Vergehen? Was wird ihm zur Last gelegt? Das lässt an Kafka denken – dessen Werk Ristikivi damals allerdings noch nicht kannte –, die Schwere wird hier aber mit Komik abgefedert, mit Humor, Ironie und Witz, die ein Element der Leichtigkeit vermitteln.
Dabei ist Die Nacht der Seelen im Oeuvre des Autors ein Singulär, ein Wendepunkt und eine Zäsur: Der Roman entstand aus einer Schaffenskrise heraus, vor der Ristikivi realistische Romane geschrieben hatte, danach verfasste er historische.
Sebastian Guggolz und seine Übersetzer
Für Sebastian Guggolz – in dessen Verlag pro Halbjahr zwei Titel erscheinen, allesamt Neuübersetzungen und Neuausgaben vergessener Werke – war die Lektoratsarbeit an Maximilian Murmanns Text die allererste Lektüre dieses Romans und entsprechend spannend. Kurze, knappe Antwort auf die implizite Frage: Seine Erwartungen wurden mehr als erfüllt.
Die Nacht der Seelen: estnisches Kult- und Schulbuch
Beim Lektorieren einer Übersetzung, deren Ausgangssprache er nicht kenne und bei der er keine eigenen Vorstellungen bezüglich des Tons habe, stelle Guggolz, wie er erklärte, die übersetzerische Arbeit grundsätzlich nicht in Frage, sondern greife ausschließlich Unstimmigkeiten auf. In diesem Zusammenhang erläuterte Maximilian Murmann, dass das Estnische dem Deutschen näher sei als das Finnische – die Sprache, aus der er bislang übersetzte – und dass überdies dieser Text ihm „vorgegeben habe“, was im Deutschen zu schreiben sei. Seine Arbeit wurde mit dem Bode-Stipendium gefördert.
So bleibt nur noch zu erwähnen: In Estland ist Die Nacht der Seelen – obwohl offiziell erst nach der Wende erhältlich – nicht nur ein Kult-, sondern auch ein Schulbuch.
(c) Ursula Wulfekamp, 2019