Eduardo Halfon: Duell – Ein Abend im Instituto Cervantes
Eine Geschichte von Erlösung und Ekstase
Auf der Bühne sitzen drei Herren. Von links nach rechts: Luis Ruby (Übersetzer), Eduardo Halfon, (Autor) und Piero Salabè (Lektor). Was sie herführt, ist ein jüngst in deutscher Übersetzung erschienenes Buch. Was sie eint, so scherzhaft Piero Salabè über die drei Kahlköpfe, sei ganz offenkundig: derselbe Haarschnitt. Es wird nicht der letzte Witz des ebenso heiteren wie nachdenklichen Abends bleiben. Was die drei Männer womöglich ebenfalls verbindet, so führt Salabè weiter aus, sei ihre ambige Herkunft. Luis Ruby als Halbspanier, Piero Salabè als Halbitaliener und Eduardo als … ja, als was denn eigentlich? „Wer bist du, und wenn ja, wie viele?“, zitiert der Lektor einen Bestsellertitel und stellt damit eine zentrale Frage: die nach der Identität. Als guatemaltekischer Jude mit libanesischen und polnischen Wurzeln, der im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie in die USA übersiedelte, erkennt sich Eduardo Halfon in der chamäleonartigen Anpassung des Juden aus Woody Allens Film Zelig wieder. Halte er sich in Guatemala auf, so sei er Guatemalteke, in den USA rede er wie ein Amerikaner und zu Besuch in Spanien, wechsle er automatisch in einen anderen Akzent.
Mosaikstein des Gessamtwerks
Das Buch, das er an diesem Abend vorstellt – Duell – ist sein dritter Roman, nach Der polnische Boxer und Signor Hoffman, allesamt auf Deutsch bei Hanser erschienen. Lektor Piero Salabè würdigt den Übersetzer für seine „ganz hervorragende Arbeit“ und den Autor als einen der originellsten Schriftsteller nicht nur Lateinamerikas, sondern der gesamten spanischsprachigen Literatur der Gegenwart, und tritt sogleich den Beweis an: Jedes Buch aus Halfons Feder sei ein Mosaikstein eines Gesamtwerks, immer wieder tauchen Bezüge zwischen den Erzählungen auf und es gebe je nach Land unterschiedliche Fassungen derselben. Der rote Faden in all seinen Werken: der Erzähler Eduardo. Der in allem seinem Autor gleiche, bis auf ein markantes Detail: Die Figur Eduardo raucht. Der Autor nicht. Schmunzeln im Publikum. Zudem erzähle er fast immer Episoden aus seiner eigenen bewegten Familiengeschichte. Doch der echte Eduardo weist sogleich den Verdacht, er schreibe an einer Familiensaga, von sich. Vielmehr vergleicht er sein Schreiben mit einer Theaterinszenierung, bei der sein familiärer Hintergrund die Kulisse bilde, die Handlung jedoch reine Fiktion sei.
Ekstatische Wahrheit
Für ihn sei der Begriff „Autofiktion“ deshalb auch Nonsens, weil im Grunde doch jede Fiktion eine Autofiktion sei. Denn, so versucht sich der Autor an einer Erklärung, ihm scheint, der Leser habe spätestens auf Seite drei eines Buches vergessen, dass er einen Roman vor sich liegen habe, und lese das Werk in der Erwartung einer wahren Geschichte. Ganz im Sinne der „ekstatischen Wahrheit“ bei Werner Herzog bediene sich Eduardo Halfon dieses Effekts und verstärke ihn, indem er seinen Erzähler Eduardo mit sämtlichen biografischen Details seiner selbst ausstattet. Entscheidend sei für ihn als Autor auch nicht, was er schreibe, sondern wie er schreibe. So habe er die erste Fassung des Romans in drei Monaten zu Papier gebracht, dann aber zwei Jahre lang an der Sprache gefeilt. Auch bejaht er, dass er als Ingenieur womöglich zu einer gewissen Sprachökonomie tendiere. Doch vielmehr gehe es ihm um Musik, um Rhythmus in der Sprache, Wiederholungen als Taktgeber. Auf die interessierte Nachfrage des Autors hin, bestätigt ihm sein Übersetzer Luis Ruby, dass diese Elemente auch im Deutschen sehr gut nachahmbar seien, nur bei Wortspielen werde es bisweilen knifflig. Doch wovon handelt das konkrete Buch eigentlich?
Auf der Fährte falscher Erinnerungen
„Er hieß Salomon. Er starb, als er fünf war, ertrunken im Amatitlán-See. So bekam ich es als Kind in Guatemala erzählt.“ So beginnt der Roman, der zunächst davon erzählt, wie der Erzähler Eduardo als Kind in dem Glauben aufwächst, sein Onkel, der Bruder seines Vaters, sei als Kind ertrunken. Mit dem Geist des toten Salomon, dessen Name in der Familie nie ausgesprochen wird. Doch dieses Bild bekommt später erste Risse, als Eduardo, inzwischen in den USA lebend, auf ein Foto stößt, das den vermeintlich toten Onkel 1940 im Schnee in New York zeigt. Wie kann das sein? Der erwachsene Erzähler schließlich macht sich am Amatitlán-See auf die Suche nach dieser seiner falschen Erinnerung und findet stattdessen eine andere, viel schrecklichere, wie Lektor Salabè erzählt. Das Publikum hält den Atem an. „Doch mehr wird hier nicht verraten“, verkündet er auf Dringen des Autors den gebannten Zuhörern, die ob dieses Telenovela-artigen Cliffhangers halb amüsiert, halb enttäuscht auflachen.
Telenovela vs. Novela total
Stattdessen verlegt sich der Lektor darauf, den Autor zum Titel seines Buches zu befragen, denn auch mit diesem hat es eine Besonderheit auf sich. Der Originaltitel Duelo ist, so sein Autor, geradezu perfekt, da er im Spanischen drei Bedeutungen und somit wiederkehrende Motive des Buches abdecke: Trauer, Schmerz, aber eben auch ein Duell – das Ringen zwischen zwei Brüdern. Leider ließen sich bislang in keiner anderen Sprache all diese Nuancen abdecken, sodass sich der deutsche Verlag für Duell entschied, während die englische Übersetzung unter dem Titel Mourning erscheint.
Der See als Hauptfigur
Es ist ein Buch, das das Thema Schuld verhandelt. Persönliche Schuld. Schuld in der Familie. Die Schuld eines ganzen Landes. Für Halfon mit seinem biografischen Hintergrund eine besondere Frage – ob in Hinblick auf Guatemala, wo man schnell in Ungnade falle, sobald man das Wort „Genozid“ ausspreche, oder die USA, wo noch heute Denkmäler ehemaliger Generäle die Sklaverei glorifizieren. Oder zu Gast hier in Deutschland, wo sein Großvater mütterlicherseits sechs Jahre lang im KZ Sachsenhausen interniert war.
Letztlich, so Halfon, sei die Hauptfigur des Buches der See, ein Spiegel für Land und Leute. Ein See, in dem immer wieder Kinder ertrinken – so erst letzte Woche – arme Kinder, für deren Schicksal und Namen sich niemand interessiere. So werde dieser See zum Sinnbild für nicht eingestandene Schuld. Der Erzähler in Duell erlebt persönliche Schuld, doch er erfährt auch Erlösung, Ekstase. Doch wenn es schon als Individuum so schwer fällt, sich Schuld einzugestehen, wie viel schwerer muss es dann für ein ganzes Land sein?, stellt Halfon die Frage in den Raum und macht damit den Raum auf für neue Fragen, denen er womöglich in künftigen Erzählungen nachgeht. Aus jedem seiner Bücher schöpfen sich Geschichten für neue Bücher, so der Autor, der bereits an einem neuen Roman arbeitet. Wovon er handeln wird, bleibt er wie so viele andere Auflösungen an diesem Abend schuldig. Doch eines ist sicher: Es wird ein weiterer Mosaikstein sein, mit dem sich die novela total, der „totale Roman“, an dem Halfon nach eigener Aussage arbeitet, zu einem Gesamtpanorama zusammensetzt.
(c) Janine Malz, 2020