18 Okt

Hieronymus außer Haus – Offenes Mikro

von Katharina Martl

Zum Hieronymus-Tag am 30. September 2020 lud das Münchner Übersetzerforum seine Mitglieder in die Bibliothek des Literaturhauses zu einem Format ein, das im März 2016 schon einmal erfolgreich stattgefunden hatte: das Offene Mikro. Fünf Mitglieder lasen aus ihren Übersetzungen, moderiert wurde der Abend von Andrea O‘Brien und Janine Malz.

Aus bekannten Gründen war bei der diesjährigen Begehung des Internationalen ÜbersetzerInnentags vieles anders. Das Hygienekonzept des Veranstaltungsorts sah eine maximale Teilnehmerzahl von 20 Personen vor, weshalb der Abend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden musste. Trotz der Einschränkungen war es eine schöne, willkommene und notwendige Abwechslung nach der langen Veranstaltungspause.

Alles anders – trotzdem schön

Da sich das MÜF normalerweise gerade dadurch auszeichnet, dass seine Mitglieder ihren Beruf eben nicht entsprechend der Ikonographie des Heiligen Hieronymus verstehen und nur streng kontemplativ und einsam im eigenen Gehäus über ihren Texten brüten, sondern den ständigen kommunikativen und kollegialen Austausch über Literatur, Sprache und alles Mögliche suchen und schätzen, war die Wiedersehensfreude groß.

Und weil die wenigsten dieses Jahr die Gelegenheit gehabt haben dürften, in die Ferne zu schweifen, freute sich das ausgehungerte Publikum umso mehr über eine spannende Mischung verschiedenster Genres (Kurzprosa und Lyrik, ein Theatertext, Romane und Autobiographisches), Themen (Erwachsen werden, Rassismus, Kunst, Mutterschaft, und immer wieder: Träume) und Schauplätze – von London ging es nach einem ausgedehnten Aufenthalt in Irland wieder zurück nach England, diesmal ins 17. Jahrhundert, und schließlich über Japan nach Kanada.

Liebe, London, Lost in Jugendsprache

Den Anfang machte Kattrin Stier, die aus ihrer Übersetzung von Sarra Mannings London belongs to us (Mein London, eine Nacht und die Liebe. dtv 2019) las. Mannings Roman erzählt von der Irrfahrt der jungen Protagonistin durch das nächtliche London und informiert ganz nebenbei in ironischem Duktus über die verschiedenen Stadtteile. Kattrin, die schon zahlreiche Texte für junge Erwachsene übersetzt hat, stellt im Vorgespräch über den Roman auch die Frage: Ist die angemessene Übersetzung von Jugendsprache und Slang irgendwann eine so unüberwindbare Hürde, dass man sich endgültig davon verabschieden sollte, oder kann man sich ihr doch immer wieder über kreative Lösungen annähern, auch wenn selbst die eigenen Kinder inzwischen schon in einem Alter sind, in dem sie zugeben müssen: „Keine Ahnung, wie die das heute sagen würden“? Liegt der Reiz nicht genau darin, dass es eben keine allgemeingültigen, schablonenartigen Lösungen gibt, sondern man sich solchen und anderen Fragen und Herausforderungen immer wieder neu stellen muss?

„Nichts ist abstrakt“

Stefanie Kremer präsentierte mehrere kurze Texte aus ihrer Übersetzung des Sammelbands Sean Scully. Inner: Gesammelte Schriften und ausgewählte Interviews (Hatje Cantz 2018). Eigentlich in der bildenden Kunst zuhause begann Scully erst spät zu schreiben. Eine Schwierigkeit, erzählte Stefanie, liegt bei seinen Texten darin, dass er als Autor der Abstraktion eine ähnlich prominente Rolle einräumt wie in seinem malerischen Werk. Abstraktion sorge dafür, dass es für den Zugang keine Barrieren durch besondere Voraussetzungen gebe. Jeder verstehe sie und jeder verstehe sie auf eine ganz eigene Art. Doch dadurch ergibt sich natürlich ein ganz praktisches hermeneutisches Problem, denn um etwas adäquat zu übersetzen – selbst oder besonders wenn das bedeutet, keine Lesart von vornherein zu fixieren, sondern möglichst viel offen zu lassen –, muss man es natürlich zunächst verstehen. Die zahlreichen, kurzen, in sich abgeschlossenen Einheiten, etwa eine Erinnerungen an ein betrunkenes Treffen mit Francis Bacon oder eine stilistisch besonders tückische lyrische Liebeserklärung an Irland und der dadurch entstehende eklektische Charakter des Sammelbands hätten den besonderen Reiz der Arbeit ausgemacht – und einmal mehr gezeigt, wie einen die kürzesten Texte am längsten beschäftigen können.

Geschenke des Himmels?

Maria Mill, die seit 30 Jahren aus dem Englischen übersetzt und außerdem Reisebildbände verfasst, las Ausschnitte aus ihrer Übersetzung von Anne Enrights Making Babies. Stumbling into Motherhood. Über die Gründe des Verlags, die deutschsprachige Ausgabe mit dem – angesichts der für Enright typischen und in Marias Vortrag wunderbar transportierten trockenen und wenig zimperlichen oder verklärenden Perspektive auf Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft, Depression und andere emotionale Abgründe, Körperlichkeit und Sex – überraschenden Titel Ein Geschenk des Himmels. Erlebnisse einer Mutter (DuMont 2005) zu publizieren, wurde ebenso gerätselt wie über die Frage nach dem Genre. Essays? Roman? Autobiographischer Bericht?

Weltprämiere im Literaturhaus

Sabine Voß las ihre Übersetzung des Pro- und Epilogs von Aphra Behns Versdrama The Rover, or The Banish’d Cavaliers,eine Bearbeitung (und protofeministische Aneignung) von Thomas Killigrews Thomaso, or the Wanderer. Die Übersetzung sollte eigentlich im April im Rahmen der langen Nacht der vergessenen Stücke an der Berliner Volksbühne aufgeführt werden, musste aber auf November verschoben werden, und so kam die kleine Runde im Literaturhaus in den Genuss einer Uraufführung durch die Übersetzerin. Sabine erzählte davon, wie die besondere Herausforderung des Reims auch eine Art Rahmen zur Strukturierung der Übersetzung vorgegeben habe, und wie schwer es gewesen sei, sich durch die enorme Fülle an Anspielungen auf die politisch wie gesellschaftlich turbulente Post-Cromwell-Ära zu kämpfen und zu entscheiden, wieviel Freiheit sich die Übersetzerin nehmen darf/muss, um den Text heute einem Publikum zugänglich zu machen, das nur einen Ausschnitt zu hören bekommt.

„Identität ist immer wild!“

Den Abschluss machte Karen Gerwig mit einer Lesung aus ihrer ganz aktuellen Übersetzung von Hiromi Gotos Roman Chor der Pilze, kein Fantasyroman, vielleicht ein bisschen märchenhaft, vielleicht auch nicht, aber vor allem „so schön!“ Eine alte Frau haut ab, als sie ins Altenheim verfrachtet werden soll, und bricht zu einem Roadtrip auf. Der Text ist erzählerisch komplex konstruiert und verhandelt, über japanische Sequenzen, aber auch über die telepathischen Gespräche der Protagonistin mit ihrer Enkelin, die großen Fragen nach Sprache, Identität und Kommunikation.

Das Programm dieses Abends bot unheimlich viel inhaltlichen wie übersetzungspraktischen Diskussionsstoff.

Und so dauerte es auch noch seine Zeit, bis sich die Mitglieder des MÜF nach Ende einer lang ersehnten und außerordentlich gelungenen Veranstaltung und angeregten Gesprächen ein wenig wehmütig, aber auch neu inspiriert auf den Weg machten, zurück ins eigene Gehäus.

 

Fotos: Alexandra Baisch