17 Mrz

Open Mic: MÜF liest!

Reisen im Kopf oder Die Literaturübersetzung in Zeiten der Pandemie

Nach der neuerlichen Covid-19-bedingten Pause fand am 10. März 2022 in der Bibliothek des Literaturhauses erstmals wieder eine Präsenz-Veranstaltung des MÜF statt. Fünfzehn Interessierte wagten sich zu der als „Speeddating“ deklarierten internen Lesung, bei der acht Übersetzer’innen die Gelegenheit erhielten, von einem aktuellen Projekt zu berichten und im Anschluss ein kurzes (oder auch längeres) Stück daraus zu lesen. Andrea O‘Brien und Alexandra Baisch ebneten den Weg ans Rednerpult und führten mit knackigen, immer herzlichen Worten durch den Abend, der sich ausgesprochen abwechslungsreich gestaltete.

von Ursula C. Sturm und Stefanie Werner

Wer Sorgen hat, hat auch Likör

Mascha Tietze eröffnete den bunten Reigen und wies mit Blick auf das aktuelle Kriegsgeschehen darauf hin, wie wichtig es ist, an Kulturverbindungen fest- und auf diese Weise die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Ihr Beitrag handelte allerdings von „der anderen Katastrophe“, wie sie es ausdrückte. Die von ihr vorgestellte Übersetzung entstand während der Covid-Pandemie und handelt interessanterweise ebenfalls von einer Epidemie:

Alexander Puschkin musste sich 1830 wegen der Cholera in der Nähe von Nischni Nowgorod in Quarantäne begeben und schrieb in dem Vierteljahr, das er dort festsaß, „so viel wie nie“, unter anderem den Einakter Das Festmahl zur Zeit der Pest, der mit reichlich Galgenhumor daran erinnert, dass man selbst in den düstersten Zeiten nicht nur Trübsal blasen sollte.
In dem Stück sitzen feiernde Männer und Frauen um eine gedeckte Tafel an einer Straße. Als ein mit Leichen gefüllter Karren vorbeifährt, versucht einer der Anwesenden, die gedrückte Stimmung zu heben, indem er die launige „Hymne auf die Pest“ zum Besten gibt, von Mascha Tietze wunderbar melodiös erst auf Russisch und dann auf Deutsch vorgetragen. Den Spruch „Alkohol ist keine Lösung“ kannte man damals wohl noch nicht, denn am Ende des Ausschnitts heißt es „Aus Protest füllen wir die Gläser.“

Schillernde Persönlichkeit

Als Nächstes stellte uns Stefanie Schlatt ein Schubladenprojekt vor, bei dem es um die legendäre Lola Montez alias Gräfin Marie von Landsfeld geht, die von Oktober 1846 bis März 1848 in München residierte und wohl als das erste It-Girl und Medienopfer der Geschichte bezeichnet werden kann. Stefanie Schlatt las Ausschnitte aus zwei Vorträgen, die die gebürtige Irin gegen Ende ihres bewegten Lebens hielt (unter anderem, um den über sie kursierenden Gerüchten Einhalt zu gebieten), und die bislang nur auf Englisch vorliegen.
Die in der dritten Person verfassten Texte – eine Mischung aus Fiktion und Realität – berichten von den zahlreichen Reisen, Abenteuern und Eskapaden der gut vernetzten und offenbar so einfallsreichen wie schlagfertigen Lola Montez. Nach einem besonders skandalösen Auftritt am Warschauer Theater etwa wurde sie verhaftet, konnte jedoch nach Moskau fliehen. Am Hof des Zaren wurde sie eines Abends, um diplomatischen Verwerfungen vorzubeugen, kurzerhand in einen Schrank gesperrt und vergessen. Erst eine Stunde später befreite der Zar sie höchstpersönlich, bat sie um Vergebung und bot ihr als Entschädigung tausend Rubel. Auf seine Bemerkung, er gedenke von nun an, allen Untertanen, denen er unrecht getan habe, eine Entschädigung zu bezahlen, reagierte sie angeblich mit einem trockenen „Das wird einen armen Mann aus Euch machen“.

Eine Frage der Perspektive

Danach las Kristin Lohmann aus dem hochinteressanten Sachbuch Fallen Idols (deutscher Titel: Heldendämmerung), in dem Alex von Tunzelmann über zwölf berühmte Statuen sowie über die dargestellten Persönlichkeiten schreibt, unter anderem über Wilhelm August, Herzog von Cumberland, der mit seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Jakobiten zweifelhafte Berühmtheit erlangte. Die 1770 in London zu seinen Ehren aufgestellte Statue zeigte den eher stämmigen Cumberland „hoch zu Ross, mit Dreispitz und gezücktem Schwert“, allerdings sorgte die Ausrichtung mit Blick gen Norden dafür, dass die überwiegend aus südlicher Richtung kommenden Verkehrsteilnehmer mit dem Anblick eines gigantischen Pferdehinterns konfrontiert wurden, auf dem ein nicht minder imposantes menschliches Hinterteil thronte.
Schon bald kamen Zweifel an dem Narrativ auf, das man der Öffentlichkeit zur Rechtfertigung des erbarmungslosen Mordens aufgetischt hatte, und Cumberland erhielt den Spitznamen „Der Schlächter“, wiewohl er selbst behauptete, er habe nur getan, was getan werden musste. 1868 wurde die Statue entfernt – offiziell zwecks Restauration, dennoch ist sie bis heute nicht wieder an Ort und Stelle. Stattdessen zierte eine Zeitlang eine symbolträchtige Nachbildung aus Seife den Cavendish Square. Statt der geplanten zwölf Monate hielt das Kunstwerk der südkoreanischen Künstlerin Meekyoung Shin vier volle Jahre durch, „erst 2016 wurden die schmierigen Überreste dann vom Sockel gekratzt.“

Wenn der Vater mit dem Sohne …

Nach dieser „sehr erbaulichen Lesung“ (O-Ton Moderation) reisten wir mit Stefanie Werner in ein vom Klimawandel geprägtes dystopisches „Schweden im Katastrophenmodus“, in dem chaotische Zustände herrschen und Brände und Unruhen allenthalben an der Tagesordnung sind.
In dem Abschnitt aus Der Anfang von Morgen von Jens Liljestrand, den sie uns vorlas, begaben wir uns auf die Martina, ein Segelboot, das in den Schären Stockholms unterwegs ist. Hier lauschten wir einem Gespräch zwischen Vater und Sohn, die die Rollen getauscht zu haben scheinen: Sohn André sinniert in der sengenden Hitze des Sommers über das Leid („Das menschliche Leid – für domestizierte Tiere ist leiden ja der Normalzustand …“), über Pest, Kriege, Gebrechen, Traumata, Hunger und dergleichen mehr, während sein Vater, ein alternder Profi-Tennisspieler über Rafael Nadal und Konsorten schwadroniert und zwischendurch auch mal laut rülpst. Von Andrés Schriftsteller-Ambitionen hält er herzlich wenig: „Bücher? Lesen die Leute denn heute noch Bücher?“

Back to the roots

Michael von Killisch-Horn, der als einer der „alten Hasen“ in der Branche bereits auf ein umfangreiches übersetzerisches Œuvre zurückblicken kann, brachte uns das Buch Atuk des Franco-Kanadiers Michel Jean mit, das das Leben seiner indianischen Großmutter erzählt. Es geht auf seine familiären Wurzeln im Volk der Innu, das zu den First Nations Kanadas zählt und die Labrador-Halbinsel bewohnt, zurück. So begaben wir uns mit Michael von Killisch-Horn in die faszinierende Welt der Fallensteller und Jäger und auf die Wanderung des damals 15jährigen Mädchens Atuk. Vom Hunger angetrieben will sie mit ihrem jüngeren Bruder Hilfe holen, denn im Wintersitz in den Bergen ist der Sippe die Nahrung ausgegangen. Auf diesem Weg geraten sie in Lebensgefahr, von Wölfen verfolgt, vom Hunger geschwächt, von der Kälte entkräftet. Halb verhungert und dem Tode nahe werden sie schließlich von Kanadiern gerettet und bestens versorgt. Die Geschichte, die aufs Innigste eine Begegnung zwischen Menschen beschreibt – die einen Angehörige der First Nations, die anderen Kanadier – ging unter die Haut. Kein Wunder, dass der Autor mit gleich mehreren renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet wurde.

Attacke auf die Lachmuskulatur

Dies gilt auch für das Werk, das Henriette Zeltner-Shane aus dem Englischen übersetzte und uns als nächstes vorstellte. In dem Roman People Person der Schriftstellerin Candice Carty-Williams, die mit Queenie als erste farbige Frau bei den British Book Awards den Preis Book of the Year absahnte, verbirgt sich jede Menge Humor. Henriette Zeltner-Shane attackierte mit ihrer Lesung unsere Lachmuskeln, als sie uns in die jamaikanische Community im Süden von London zu den Pennigtons mitnahm, einer Familie, die man sich wahrlich nicht aussuchen würde. Dass die Protagonistin Dimple plötzlich vor einer Blutlache steht, in der die Leiche ihres Freundes schwimmt, ist nur eines ihrer zahlreichen Probleme. Noch dazu im Haus einer Rechtsanwältin! Ihre vier Halbgeschwister – alle von einem stets abwesenden Vater mit wechselnden Müttern gezeugt – sind der Mittzwanzigerin auch keine große Hilfe. Henriette Zeltner-Shanes unterhaltsamer Beitrag bewies eindeutig, dass sich auch Übersetzerinnen im Rampenlicht gut machen!

Übersetzen ist Kunst!

Mit This little Art präsentierte sich Sabine Voss. Dieses kleine, feine Buch von Kate Briggs, erschienen im INK Verlag und auch dieses preisgekrönt (Windham-Campbell-Preis), über die Kunst des Übersetzens ist ihre erste Buchübersetzung aus dem Englischen und regte uns zum Nachdenken über das an, was wir tagtäglich tun: das Übersetzen. In diesem literarischen Essay erläutert die Autorin facettenreich die Projektionen, die Übersetzung mit sich bringt und – was besonders erstaunlich ist – stellt den Prozess des Übersetzens als etwas Besonderes dar.

Am Beispiel von Thomas Manns Zauberberg wird deutlich, wie Übersetzungen Illusionen schaffen. Bittet eine Romanfigur, sie möge auf Deutsch angesprochen werden, liest der Leser der englischen Übersetzung fraglos die Übertragung in die andere Sprache mit. Ebenso verhält es sich bei der Lektüre von Roland Barthes Texten, der seine Vorlesungen zwar auf Französisch hielt, aber der englischsprachigen Leserschaft durch eine Übersetzung ins Englische zugänglich gemacht wurde. Kein Leser merkt an, dass Barthes des Englischen kaum mächtig war. Somit trägt jedes Übersetzungsprojekt etwas Irreales, Romanhaftes in sich, wie Sabine Voss uns mit ihrer Lesung auf anschauliche Weise vorführte, und damit stimmte sie, ganz im Sinne von Kate Briggs, eine Lobeshymne aufs Übersetzen als solches an.

Märchenwelt in Frauenhand

Ursula C. Sturm brachte uns das frisch erschiene, innen wie außen bunte Werk der britischen Journalistin und Drehbuchautorin Bolu Babalola mit, das der Eisele Verlag soeben unter dem Titel In all deinen Farben auf den Markt gebracht hat. Die junge, nigerianische Autorin malt mit den Kurzgeschichten ihres Debüts das Leben schwarzer Frauen in bunten Farben nach, greift dabei Stoff aus Mythen und Legenden unterschiedlichster Herkunft auf, und gibt den Heldinnen ungewohnte Handlungsfreiheit. Als Ursula C. Sturm beginnt, aus einem Kapitel vorzulesen, das die Liebesgeschichte der Eltern der Autorin nacherzählt, schließt sich auf wundersame Weise der Kreis der zweiten Lesehälfte des Abends, der mit dem Ausflug ins Leben der nordamerikanischen „Atuk“ begann.
In der Noble Street im Herzen des nigerianischen Lagos‘ wächst die Prinzessin auf, ein paar Straßen weiter ihr Prinz. Beide entstammen liebevollen Elternhäusern und wachsen als Viertgeborene in einer großen Geschwisterschaar auf, beide tragen Vornamen, die bedeuten „Gott liebt mich“ und beide werden in jungen Jahren auf ein Internat geschickt, wo sie bald mehr als die Schulstunden miteinander teilen. Der gemeinsame Spindschlüssel wird zum Symbol für den Wunsch, beieinander zu sein. Im Studium getrennt werden sie erstmals in die große, weite Welt hinausgetragen, doch ein Brief scheint sie wieder zueinander zu führen – mit diesem Cliffhanger beendet Ursula C. Sturm ganz entspannt ihren Vortrag und pflanzt damit ihrem Publikum den sehnsüchtigen Wunsch ein, dieses wunderbare Buch schnellstmöglich in die Finger zu bekommen, um den Ausgang der Geschichte zu erfahren.

Vielfältiger hätte das Programm des „Open mic“-Abends nicht sein können – und so setzte eine größere Schar der Kollegen die angeregten Diskussionen im nahe gelegenen Franziskaner-Brauhaus fort, bis der Wirt zur Nachtruhe rief.

 

 

Dieser kurzweilige Blogbeitrag wurde Ihnen präsentiert von

Ursula C. Sturm – www.translations-that-click.de

und

Stefanie Werner- www.text-haus.de