12 Jun

Das Translatorische Trio

Am 18. Mai 2022 trafen sich die Literaturübersetzer Mirko Kraetsch und Radovan Charvát auf der Bühne des Münchner Literaturhauses – eingeladen hatte sie Frances Jackson, Programmkoordinatorin des Tschechischen Zentrums und selbst Übersetzerin, zur ersten Ausgabe des „Translatorischen Trios“. Die drei sprachen über gute und schlechte Übersetzungen, die Sichtbarkeit von Übersetzer:innen und über Herzensprojekte – und wie es ist, wenn der Autor des Buches, das man gerade übersetzt, plötzlich stirbt.

Mirko Kraetsch, einer der profiliertesten Übersetzer zeitgenössischer tschechischer und slowakischer Literatur ins Deutsche, machte u. a. die tschechischen Autor:innen Bianca Bellová, Markéta Pilátová, Irena Dousková und Emil Hakl sowie die slowakischen Autoren Michal Hvorecký und Peter Krištúfek der deutschen Leserschaft bekannt. Radovan Charváts deutsche Autoren hingegen, die dieser ins Tschechische übersetzt, leben zum großen Teil nicht mehr: Hermann Hesse, Arno Schmidt, Robert Walser, Thomas Bernhard und W. G. Sebald.

Lücken schließen 

Während Mirko Kraetsch also neueste tschechische Literatur für den deutschen Buchmarkt erschließt, war Radovan Charvát einer derjenigen, die direkt nach der Wende die vorhandenen Lücken schlossen und dazu beitrugen, dass mittlerweile die meisten wichtigen deutschen Autoren komplett auf Tschechisch vorliegen. Mit der Zeit habe sich aber, so Charvát, die Stellung der deutschen Literatur in Tschechien geändert: Heute sind es Übersetzungen aus dem Englischen, die den tschechischen Buchmarkt dominieren. Weit weniger als die deutschen Bücher in Tschechien sind die tschechischen Bücher auf dem deutschen Buchmarkt und in den Köpfen der deutschen Verleger präsent: „Tschechische Literatur ist hier randständig“, so Mirko Kraetsch. Das liegt daran, dass Tschechien nicht mehr exotisch ist, der kulturelle Raum derselbe: Die Unterschiede zwischen den deutschsprachigen Ländern und Tschechien seien mittlerweile minimal, die Themen ähnlich. Zugleich sei es teurer, ein tschechisches Buch auf den deutschen Buchmarkt zu bringen als ein deutsches Buch, da zusätzlich die Übersetzung bezahlt werden muss – und das trotz der großzügigen Übersetzungförderung durch das tschechische Kulturministerium.

Zwei Übersetzer,  zwei Werdegänge …

„Waren Sie schon immer Übersetzer oder sind Sie es erst geworden?“ fragt Frances Jackson nach dem beruflichen Werdegang der beiden Übersetzer und dieser könnte unterschiedlicher nicht sein. Mirko Kraetsch studierte Bohemistik und Kulturwissenschaft in Berlin und entdeckte während seines Auslandsjahres in Prag viele tschechische Autoren für sich, musste jedoch feststellen, dass sie noch nicht ins Deutsche übersetzt waren. Wie schade, dass seine Freunde nicht in den Genuss dieser tollen Texte kommen, dachte er sich, übersetzte kurzerhand die Texte selbst und verteilte sie ausgedruckt und zusammengeheftet im Berliner Freundeskreis. Zurück in der Hauptstadt nahm er an einem Übersetzungsprojekt teil – von da an gab es für sein übersetzerisches Schaffen kein Halten mehr.

Radovan Charvát hingegen studierte Mathematik an der Technischen Hochschule in Prag und arbeitete anschließend als Mathematiker in einem Prager Rechenzentrum. Völlig unzufrieden mit seinem Beruf brach er seine mathematische Laufbahn ab und orientierte sich radikal neu: Er drückte noch einmal die Unibank und studierte in den 1980er Jahren Germanistik und Anglistik; seit Mitte der 1980er Jahre arbeitet als literarischer Übersetzer. Beim Treffen im Literaturhaus hatte er deshalb nicht nur fachliches Insiderwissen, sondern auch Kulturwissen aus der Vorwende-Tschechoslowakei im Gepäck. Man erfuhr z. B. auf die Frage, ob er Vor- oder Nachworte zu den von ihm übersetzten Texten besser fände, dass Nachworte in der ehemaligen Tschechoslowakei eigentlich nur die Existenz des entsprechenden Buches auf dem sozialistischen Buchmarkt begründen sollten – und dementsprechend schlecht geschrieben und „voller Lügen“ waren.

… zwei Ansichten

Im Verlauf des Abends wird die Moderatorin beiden Übersetzern noch weitere Entweder-Oder- bzw. Ja-Nein-Fragen zuspielen: Fußnoten oder Glossar? Glossar, sagen beide, eventuell eine stumme – also erklärende – Fußnote, so Mirko Kraetsch. Name des Übersetzers auf den Buchumschlag – ja oder nein? Klares „Ja!“ von Mirko Kraetsch, der sich seit Jahren für die Anerkennung und Sichtbarmachung von literarischen Übersetzer:innen einsetzt. Außerdem sei dies, das dürfe nicht vergessen werden, auch verkaufsfördernd, weil manche Leser nach dem Namen des Übersetzers entscheiden, ob sie ein Buch kaufen oder nicht. Tatsächlich seien es im deutschen Sprachraum aber eher kleinere Verlage, die den Namen des Autors von sich aus aufs Cover drucken. Radovan Charvát hingegen zuckt mit den Schultern, ihm sei es „egal“, ob sein Name auf der Titelseite stehe oder nicht. Trotzdem sei er aber, genauso wie sein deutscher Kollege, der Meinung, dass der Übersetzer Co-Autor des übersetzten Buches sei. Manchmal nehme diese Co-Autorschaft sogar solche Ausmaße an, dass man fast von einem neuen Buch sprechen könne wie im Fall seiner Übersetzung von Jan Faktors Roman „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“, den Radovan Chorvát ins Tschechische übertrug. Monatelang gingen Textversionen zwischen dem tschechisch-stämmigen Autor und seinem Übersetzer hin und her, es wurde gefeilt und umgeschrieben, für den tschechischen Leser Offensichtliches flog raus. „Das Buch wurde immer besser!“, lacht Charvát stolz: Wäre der Text nicht quasi ein neues Buch geworden, wäre er sogar für den Übersetzerpreis vorgeschlagen worden.

Von der Bearbeitung des Ausgangstextes können übrigens Übersetzer aus dem Tschechischen ein Lied singen, auch wenn diese nicht immer solche Ausmaße wie beim erwähnten Faktor-Roman annehmen: In Tschechien greife, so Mirko Kraetsch, das Lektorat viel weniger in den Text des Autors ein als beispielsweise in Deutschland, sodass ein Teil der Übersetzungsarbeit immer auch das Lektorat sei.

Herzensprojekt

Anschließend berichtet er ebenfalls von seinem Herzensprojekt, dem Roman „Das Haus des tauben Mannes“ von Peter Krištúfek: „Diese Familiensaga ist ein toller Einstieg für jeden, der die Slowakei kennenlernen und dabei ein schönes Buch lesen will.“ Auch der Veröffentlichung dieses Buches ging ein reger Austausch zwischen Autor und Übersetzer voraus. Umso schockierender für den Übersetzer, als eines Tages die Nachricht kam, der Autor sei bei einem Busunfall auf der Autobahn ums Leben gekommen. „Das war schrecklich und wirklich tragisch – mit seinen 44 Jahren ist er einfach aus dem Leben gerissen worden“; die restliche Arbeit am Buch bestritt Mirko Kraetsch dann mit der Witwe des Autors. Glücklicherweise sei das Verlagshaus, der Braumüller Verlag, jedoch nicht vom Projekt zurückgetreten.

Skřipec:  Die Folterbank als  übersetzerischer Antipreis 

So neigt sich der kurzweilige Abend langsam dem Ende zu und es bleibt Zeit für zwei letzte Fragen: Übersetzerischer Antipreis wie in Tschechien der „Skřipec [zu Deutsch: Folterbank]“, wäre das was für Deutschland? Der Preis sei in den 1990er Jahren entstanden, erklärt Radovan Charvát, als vieles und vieles eben sehr schlecht übersetzt wurde. Trotzdem: Eher nein, meint Mirko Kraetsch, nicht schön, wenn Kollegen an den Pranger gestellt werden, obwohl die alljährliche Vergabezeremonie des Folterinstruments auf der Book World Prague sehr amüsant sei. Aber kann man eine Übersetzung eigentlich bewerten, ohne die Ausgangssprache selbst – wenigstens annähernd – zu sprechen? Na klar, nicken beide, eine gute Übersetzung erkennt man, so Radovan Charvát und Mirko Kraetsch erinnert an die Kriterien für gute Übersetzungen, die der Übersetzer Frank Heibert 2021 auf der Translationale in Berlin und auf dem Schweizer Symposium für Literarische Übersetzerinnen und Übersetzer in St. Gallen diskutierte. Zusammenfassend gesagt gehe es bei Übersetzungskritik nicht darum zu prüfen, ob jedes Wort richtig in die andere Sprache übertragen wurde, sondern, ob der Text als Ganzes funktioniert, ob seine Message rüberkommt. Leider werde jedoch über literarische Übersetzungen in Deutschland zwar viel, aber außerhalb der Übersetzercommunity erst dann nachgedacht, wenn die Übersetzung misslungen ist.

Das „Translatorische Trio“ soll übrigens in Zukunft wieder stattfinden – dann mit Übersetzerinnen und Übersetzern in und aus einer anderen Sprache.


Dieser Blogbeitrag wurde uns präsentiert von MÜF-Mitglied

Veronika Siska
www.veronikasiska.de