30 Sep

Herbstlese mit vier Überraschungsgästen

Vor einer Woche fand anlässlich des Hieronymustags am 30.09. unsere Herbstlese im Literaturhaus München statt.

Moderatorin Alexandra Baisch, selbst Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Spanischen, führte durch den Abend und präsentierte dem Publikum vier Überraschungsgäste.

 

Biest

Als Erstes, so verkündete sie, werde ein „Biest“ die Bühne betreten, beruhigte aber die Anwesenden, dabei handle es sich bloß um den ersten Titel des Abends. Daraufhin stieg Julia Gschwilm auf die Bühne, Übersetzerin aus dem Schwedischen, Norwegischen und Dänischen. Tatsächlich hatte sie das „Biest“ dabei, einen dänischen Roman der Autorin Ane Riel.  Darin geht es um Leon, genannt „Dodo“, der seit seiner Geburt auffällig groß, kräftig und langsam in seiner Entwicklung ist. Je älter er wird, desto öfter passiert es ihm mit seinen Bärenkräften, dass er aus Versehen Tiere zerquetscht, obwohl er sie eigentlich nur streicheln will. Auch als Erwachsener ist ihm die Welt noch immer oft ein Rätsel. Nur sein bester Freund Mirko schafft es, zu ihm vorzudringen und ihm ein Gefühl von Zuhausein zu vermitteln, vor allem, als sich ihre Leben in einer Nacht für immer verändern …

Julia Gschwilm erzählt sichtlich angetan von dem Buch, das an einem nicht näher benannten Ort irgendwo in Süd(ost)europa spielt und dessen Hauptfigur an Lennie aus Steinbecks „Von Menschen und Mäusen“ erinnert. Auf die Frage, wieso es sich lohnt, das Buch zu lesen, antwortet sie prompt: Die Autorin, von der sie bereits mehrere Krimis wie „Harz“ und „Blutwurst und Zimtschnecken“ übersetzt hat, schafft es immer wieder, in ihren Büchern eigene Welten zu erschaffen und und ihre Figuren so lebendig zu zeichnen, dass man meint, sie zu kennen. Dabei sind die Stoffe originell und fesselnd, eine klare Empfehlung.

Ewiges Licht

Als Zweites kam Jan Schönherr auf die Bühne, Übersetzer aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen, der „Ewiges Licht“ von Francis Spufford mitgebracht hatte. Für den Übersetzer nach „Neu-York“ bereits das zweite Buch des britischen Autors. In seinem neuen Roman erzählt Spufford vom 25. November 1944, an dem eine deutsche V2 in einen Londoner Woolworth einschlug. 168 Menschenleben wurden ausgelöscht; 33 Kinder, auch Babys waren darunter.

In allen Einzelheiten beschreibt er, was beim Einschlag der Rakete passiert, wie sie binnen Sekunden das Gebäude sprengt, wie sich die Körper auflösen. Anhand von fünf Kindern spinnt der Autor die Geschichte weiter. Was wäre aus ihnen geworden, wären sie nicht gestorben? Spufford zeichnet fünf Lebenswege in Abständen von fünfzehn Jahren nach. Was in einer Phase bedeutsam, prägend war, kann in der nächsten bereits nur noch eine entfernte Erinnerung sein.

Die Wahrheit und andere Erinnerungen

Die Dritte an diesem Abend war Andrea O’Brien, Übersetzerin aus dem Englischen, die ebenfalls ein echtes Herzensbuch präsentierte: „Die Wahrheit und andere Erinnerungen“ von Imbi Neeme. In dem Buch geht es um die beiden Schwestern Sam und Nicky. 1982 stellt ein Autounfall mit ihrer Mutter Tina am Steuer ihr Leben komplett auf den Kopf. Beide sind noch klein, bei dem Unfall wird glücklicherweise niemand verletzt. Doch ihr Vater gibt seiner alkoholsüchtigen Frau die Schuld an dem Unfall. Fortan lebt Sam beim Vater, Nicky bei ihrer Mutter. Ihre Leben verlaufen in völlig unterschiedlichen Bahnen und doch lässt sie die Erinnerung an damals nicht los.

Was ist wirklich geschehen? Um das herauszufinden, müssen die Schwestern das schier Unmögliche tun: das Ungesagte aussprechen, die eigene Geschichte neu zusammensetzen. Doch keine von beiden ahnt, was diese Reise in die eigene Vergangenheit zu Tage fördert … Übersetzerin Andrea O’Brien ist noch immer schwer begeistert von dem Debüt der australischen Autorin. Auch wenn es nicht immer leichte Kost ist, kann sie diese erschütternde und ergreifende Familiengeschichte nur jedem empfehlen.

Eine Insel

Als Viertes kam Regina Rawlinson auf die Bühne, die „Eine Insel“ der südafrikanischen Autorin Karen Jennings vorstellte. Der Leuchtturmwärter Samuel lebt seit zwanzig Jahren ganz allein auf einer Insel, irgendwo vor der Küste Südafrikas. Abgesehen von dem Versorgungsschiff, das alle zwei Wochen anlegt, hat er keinen Kontakt zur Außenwelt. Samuel ist in Armut aufgewachsen, wurde mit seiner Familie von Kolonialherren von seinem eigenen Land vertrieben, eher unfreiwillig wird er in gewalttätige Ausschreitungen auf den Straßen hineingezogen. Daraufhin landet er 23 Jahre im Knast. Als er wieder rauskommt, erkennt er sein Land nicht mehr wieder und auch die Menschen in seinem Umfeld haben sich von ihm abgewandt. So flüchtet er sich auf eine Insel, wo er seine Pflichten als Leuchtturmwärter erfüllt und ansonsten Hühner züchtet und eine Steinmauer instand hält, als Schutz vor Eindringlingen. Wenn gelegentlich die Leichen von Flüchtlingen angespült werden, fügt er sie in die Mauer ein. Bis eines Tages der Körper eines Mannes angespült wird, der noch Lebenszeichen von sich gibt …

Regina Rawlinson hat der Roman tief beeindruckt, nicht nur aufgrund seiner sparsamen, eleganten Konstruktion, sondern vor allem, weil er viel darüber erzählt, wie Menschen vom Strudel der Geschichte mitgerissen werden und ohne eigenes Verschulden im Elend landen können. Und damit schließt sich der Kreis an diesem Abend. Denn trotz der zeitlichen und geografischen Distanz der vier vorgestellten Titel haben sie eines gemeinsam: Es geht um universelle Werte der Menschlichkeit und darum, Menschen nicht vorschnell zu be- und verurteilen. Sich zu fragen, welches Schicksal und welche Gründe sie womöglich dazu bewegen, so zu handeln, wie sie es tun. Darin liegt die eigentliche Kraft der Literatur – den Blick zu weiten für andere Lebenswelten und Verständnis für einander zu ermöglichen.

 

Bibliografie:

Ane Riel: „Biest“, erschienen bei btb

Francis Spufford: „Ewiges Licht“, erschienen bei Rowohlt

Imbi Neeme: „Die Wahrheit und andere Erinnerungen“, erschienen bei Arche

Karen Jennings: „Eine Insel“, erschienen bei Blessing

Bericht & Fotos: Janine Malz